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Analysis
Du brauchst Bewegung und Abenteuer im Kopf

8 Die reellen Zahlen

Die ganze Theorie der (reellen) Analysis beruht auf einigen Axiomen über die reellen Zahlen und einigen Konzepten und Werkzeugen wie Abstand, Signum und Betrag, die miteinander verwoben sind. In diesem Zusammenhang bezeichnet man die Zahlen gerne als Punkte.

Eine Zahl x, gedacht als ein Punkt der Zahlengeraden (auch der abgeschlossenen, reellen), ist durch zwei Eigenschaften gekennzeichnet: ihren Abstand vom Punkt Null und ihrem Vorzeichen.

  • Der Abstand zu Null wird mit |x|, lies x Betrag, bezeichnet, (Fig. 8.1).
  • Das Vorzeichen ist gegeben durch sign(x), lies Signum x, (Fig. 8.2).

8.1 Die Betragsfunktion

Die Betragsfunktion |·| bildet positive Zahlen auf sich selbst ab, negative Zahlen auf ihr additiv inverses Element:
Für x ≥ 0 gilt f(x) = |x| = x = id(x).
Für x < 0 gilt f(x) = |x| = -x.
Beispiel: |-7| = -(-7) = 7.
0 -a a x y f(x) = |x| = -x f(x) = |x| = x = id(x)
Fig. 8.1   Die Betragsfunktion

8.2 Die Abstandsfunktion

Gilt a > b, dann ist a - b = c, mit c > 0, und b - a = -c < 0. Der Abstand zwischen a und b soll eine positive Zahl sein, weshalb der Abstand (die Distanz) zwischen a and b wie folgt definiert ist:
d(a, b) = d(b, a) = |a - b| = |b - a|.

Eigenschaften des Betrags

Es ist stets |a| ≥ 0. Man darf also innerhalb der Betrags-Balken das Vorzeichen wechseln.
Man kann sich das auch gut merken, wenn man an die Spiegelsymmertrie |a| = |-a| (Fig. 8.1) oder
an |a - b| = |b - a| denkt.
Haben a und b das gleiche Vorzeichen, dann ist ihr Produkt a · b > 0 und wir haben |a · b| = |a| · |b|.
Haben a und b verschiedene Vorzeichen, dann ist a · b < 0 und wir haben wieder |a · b| = |a| · |b|.
Ebenfalls wenn a oder b oder beide null sind, es gilt immer
|a · b| = |a| · |b| und somit, wenn b ≠ 0, auch |a/b| = |a|/|b|.

1.) Es gilt immer a ≤ |a| und -a ≤ |a|.
Beweis: Ist a ≥ 0 dann ist |a| = a und -a ≤ 0, und somit ist -a ≤ a ≤ |a|. Ist a ≤ 0 dann ist |a| = -a und -a ≥ 0, und somit ist a ≤ -a ≤ |a|. ☐

2.) Für alle x, ε ∈ R ist |x| ≤ ε äquivalent zu -ε ≤ x ≤ ε.
Beweis: (i) ⇒: Aus |x| ≤ ε und 1.) folgt dass x ≤ |x| ≤ ε und -x ≤ |x| ≤ ε. Aus der letzten Ungleichung folgt -ε ≤ x und daher -ε ≤ x ≤ ε.
(ii) ⇐: Angenommen -ε ≤ x ≤ ε. Durch Multiplikation mit -1 erhalten wir auch ε ≥ -x ≥ -ε. Ist x ≥ 0 dann ist |x| = x und dadurch |x| ≤ ε. Ist x ≤ 0 dann ist |x| = -x und es folgt ebenso |x| ≤ ε. ☐

3.) Dreiecksungleichung: Für alle x, y ∈ R, |x + y| ≤ |x| + |y|.
Beweis: Wegen 1.) haben wir x ≤ |x| und y ≤ |y|. Durch Addition erhalten wir x + y ≤ |x| + |y|. In gleicher Weise erhalten wir -x - y ≤ |-x| + |-y|, also -(x + y) ≤ |x| + |y|. Durch Multiplikation der letzten Ungleichung mit -1 erhalten wir auch x + y ≥ -(|x| + |y|). Wir haben also -(|x| + |y|) ≤ x + y ≤ |x| + |y| und mit 2.) ergibt sich |x + y| ≤ |x| + |y|. ☐

4.) Die umgekehrte Dreiecksungleichung: |x - y| ≥ ||x| - |y||.
Beweis: In der Dreiecksungleichung setzten wir für x die Zahl x - y ein und erhalten |x - y + y| ≤ |x - y| + |y| oder |x| - |y| ≤ |x - y|. Vertauschen wir in der letzten Ungleichung x und y, erhalten wir |y| - |x| ≤ |y - x|, d. h. -(|x| - |y|) ≤ |x - y|, da |y - x| = |x - y| ist. Das ist äquivalent zu |x| - |y| ≥ -|x - y|. Somit haben wir wegen -|x - y| ≤ |x| - |y| ≤ |x - y| und 2.), dass |ΙxΙ - ΙyΙ| ≤ |x - y| oder |x - y| ≥ |ΙxΙ - ΙyΙ|. ☐

Bemerkung: Alternative Herleitung für 3.): Aus 1.) erhalten wir -|x| ≤ x ≤ |x| und ebenso -|y| ≤ y ≤ |y|. Addition der beiden Ungleichungen führt zu -(|x| + |y|) ≤ x + y ≤ |x| + |y| und mit 2.) zu |x + y| ≤ |x| + |y|. ☐


8.3 Die Vorzeichenfunktion

Die Signumfunktion is definiert durch:
sign(x) = 1 für x > 0,
sign(x) = -1 für x < 0
sign(x) = 0 wenn x = 0.

f(x) = sign(x) 0 x y 1 -1
Fig. 8.2   Die Signum(Vorzeichen)funktion
Für jede Zahl x gilt:
x = |x| · sign(x) sowie
|x| = x ⋅ sign(x).

8.4 Erschaffung der reellen Zahlen aus dem Nichts

In reeller Analysis zu schwelgen, bedeutet mit reellen Zahlen zu jonglieren. Dieses Material, die Struktur (R, +, ⋅) der reellen Zahlen, wird mithilfe einiger Axiome definiert. Alles was Sie danach konstruieren, werden Sie von diesen Axiomen ableiten.

Die Körperaxiome

Seien a, b, c   reelle Zahlen.
A1. a + b = b + a   und   a⋅ b = b⋅ a.   -   (Kommutativität)
A2. a + (b + c) = (a + b) + c   und   a⋅ (b⋅ c) = (a⋅ b)⋅ c.   -   (Assoziativität)
A3. a⋅ (b + c) = a⋅ b + a⋅ c.   -   (Die Multiplikation ist distributiv bezüglich der Adittion)
A4. ꓱ 0, 1 ∈ R, 0 ≠ 1 | ∀ a ∈ R   a + 0 = a   und   a ⋅ 1 = a.   -   (Neutrales Element)
A5. ∀ a ∈ R ∃ -a ∈ R | a + (-a) = 0   und   ∀ a ∈ R, a ≠ 0, ∃ a-1R | a ⋅ a-1 = 1.   -   (Inverses Element)

Die Ordnungsaxiome

A6. a < b   oder   a = b   oder   a > b.   -   (Trichotomie)
A7. a < b   und   b < c ⇒ a < c.   -   (Transitivität)
A8. a < b ⇒ a + c < b + c ∀ c   und   a⋅ c < b⋅ c ∀ c > 0.   -   (Monotonie)

Die Axiome A1 bis A5 definieren einen Körper. Zusammen mit den Axiomen A6 bis A8 wird der Körper zum geordneten Körper.

Alternatives Ordnungsaxiom

Ein geordneter Körper ist ein Körper K (A1 bis A5), einhergehend mit dem folgenden Axiom:

Es gibt eine Teilmenge P ⊂ K, so dass
(a) a, b ∈ P impliziert a + b ∈ P und a · b ∈ P,
(b) Ist a ≠ 0 und a ∈ F, dann gilt entweder a ∈ P oder -a ∈ P.
Die Elemente von P heißen die positiven Elemente.

Der dermaßen postulierte Körper entspricht der Menge der rationalen Zahlen Q, welche uns für Berechnungen aller Art dient. Diese Menge aller Brüche, (periodische und endliche Dezimalzahlen) belegen aber nicht die ganze Zahlengerade. Zugegeben, für jede reelle Zahl x und für jede beliebig kleine erlaubte Abweichung ε, existiert eine rationale Zahl y mit |y – x| < ε. Aber kontinuierliche Funktionen? Denkste! Die Menge Q ist nirgends stetig, sie hat überall Lücken. Zum Beispiel sind der Umfang und der Durchmesser eines Kreises inkommensurabel, was bedeutet, dass pi  eine irrationale Zahl ist, π ist sogar eine transzendente Zahl. Es gibt unendlich viele Primzahlen und deren jede Quadratwurzel ist irrational, es gibt Dreiecke mit Seiten von irrationaler Länge, etc.
Die reale Analysis bedarf der abgeschlossenen realen Zahlengeraden, die keine Lücken aufweist. Das Prozedere, jedem Punkt der Zahlengeraden eine Zahl zuzuteilen, nennt man die Vervollständigung von Q. Für die Formulierung eines entsprechenden Axioms benötigen wir ein paar weitere Konzepte.

8.4.1 DEFINITION: Intervalle, offene Überdeckung

Seien a, b ∈ R, a < b.

Die Menge {x ∈ R | a < x < b} =: (a, b) ist das offene Intervall, und
{x ∈ R | a ≤ x ≤ b} =: [a, b] ist das abgeschlossene Intervall mit den Randpunkten a und b.

x0 := (a + b)/2 ist der Mittelpunkt, (b – a)/2 ist der Radius und b – a ist die Länge des Intervalls.

Die Intervalle mit Mittelpunkt x0 und Radius r, Ur(x0) und Ur[x0] bezeichnet man als (offene / abgeschlossene) r-Umgebung von x0.

Eine Folge abgeschlossener Intervalle In := [an, bn] heißt Intervallschachtelung, wenn an → y und y ← bn.

Einseitige und zweiseitige unendliche Intervalle sind (-∞, b), (a, +∞) und (-∞, +∞).

Eine Familie Ω = {Jα}α∈S von Mengen Jα wird eine Überdeckung einer Menge A genannt, wenn A ⊆ ⋃α∈S Jα. Ist jedes Jα offen, heißt {Jα}α∈S eine offene Überdeckung von A.

Insbesondere wird eine Menge Ω offener Intervalle eine offene Überdeckung des abgeschlossenen Intervalls [a, b] genannt, wenn jedes x ∈ [a, b] in mindestens einem der offenen Intervalle in der Menge Ω enthalten ist.

Das Vollständigkeitsaxiom

A9b. Für jede offene Überdeckung Ω eines abgeschlossenen Intervalls [a, b] gibt es eine endliche Teilmenge Ω' ⊂ Ω die bereits [a, b] überdeckt. (Bemerkung: Ω' heißt dann endliche Überdeckung).

Oh Schreck, lass nach! Das soll ein Axiom sein?

Mit dieser Charakterisierung A9b der reellen Zahlen, es handelt sich um den Satz von Borel-Lebesgue (auch als Satz von Heine-Borel bekannt), wurden wir in der ersten Woche an der Universiteit van Suid-Afrika von Hanno Rund konfrontiert. Rund war auch federführend bei [60] (Inleiding tot die Algebra en Analise vir voorgraadse Studente), worin Vollständigkeit auch auf diese Weise eingeführt wird. Dieses Buch erschien 1970 und war das erste Buch in Afrikaans (früher auch Kapholländisch oder Kolonial-Niederländisch genannt), das im neuen Geiste der Mathematik des zwanzigsten Jahrhunderts geschrieben war. Rund stammte zwar aus Deutschland, war aber von französischen Mathematikern beeinflusst. Vielleicht hatte er deshalb seinen Spass daran, uns Studenten einen derartigen Schrecken mit Borel-Lebesgue einzujagen. Wir fanden diesen Ansatz abstrus und fragten uns, wohin er führen soll. Wir werden hier deshalb sogleich ein echtes Axiom angeben, obgleich wir Konzepten und Begriffen etwas vorgreifen müssen.
Hier eine kleine Motivation für diesen neuen Versuch:
Man führe sich die drei folgenden Mengen rationaler Zahlen zu Gemüte:
G := {x ∈ Q | x2 < 2},
F := {x ∈ Q | x2 ≤ 2} und
O := {x ∈ Q | x2 > 2}.
Erstens, G = F. Warum? Gerhard und Franz sind ein und dieselbe Menge, weil die Zahl x, so dass x2 = 2, nicht in Q enthalten ist. Erinnern wir uns: Q ist nicht vollständig, hat viel Lücken.
Alle Elemente von O sind obere Schranken für G, aber G hat keine kleinste obere Schranke (Supremum). Alle Elemente von G sind untere Schranken für O, aber O hat keine größte untere Schranke (Infimum). Das verhält sich anders in der Menge R der rationalen Zahlen, welche die Zahl x mit der Eigenschaft x2 = 2, enthält.

A9a. Jede nichtleere, nach oben (unten) beschränkte Menge A ⊂ R hat ein Supremum (Infimum) in R.



Wir wollen hier unten zeigen, dass A9a und A9b äquivalent sind. Dieser Beweis ist sehr interessant und wird uns für den Überdeckungsschreck mehr als entschädigen.

Hier sind zudem noch einige andere Definitionen des Vollständigkeitsprinzips. Jede Aussage kann aus jeder anderen Aussage hergeleitet werden:

⋅ A9c. Ein Dedekind'scher Schnitt hat genau eine Trennungszahl.
⋅ A9d. Das Intervallschachtelungsprinzip.
⋅ A9e. Jede Cauchyfolge (an) konvergiert.

Um zu beweisen, dass diese fünf Charakterisierungen der Vollständigkeit äquivalent sind, genügt der Beweis einer geschlossenen Kette, wie beispielsweise A9b ⇒ A9a ⇒ A9c ⇒ A9d ⇒ A9e ⇒ A9b.

Anmerkung: Während die rationalen Zahlen abzählbar (zählbar unendlich viel) sind, sind die reellen Zahlen überabzählbar (nicht abzählbar unendlich viel). Gemäß der Kontinuumshypothese ist die Kardinalität der reellen Zahlen |R| = 2|Q| = c.

Zur Demonstration dass A9a und A9b equivalent sind, benötigen wir erst noch einige Definitionen und Werkzeuge.

8.4.2 DEFINITION: Schranken, Minima, Suprema, etc.

Sei XR.

  • Jede reelle Zahl a für die gilt, ax für alle x aus X, heißt untere Schranke von X.
  • Hat X eine untere Schranke, heißt X nach unten beschränkt.
  • Jede reelle Zahl b für die gilt, xb für alle x aus X, heißt obere Schranke von X.
  • Hat X eine obere Schranke, heißt X nach oben beschränkt.
  • X heißt beschränkt, wenn X sowohl nach unten als auch nach oben beschränkt ist.
  • Ist X nach unten beschränkt, heißt seine größte untere Schranke das Infimum von X (inf X).
  • Ist X nach oben beschränkt, heißt seine kleinste obere Schranke das Supremum von X (sup X).
  • Hat X ein Minimum, dann gilt inf X = min X.
  • Hat X ein Maximum, dann gilt sup X = max X.

  • Wir müssen also nach dem Infimum greifen, wenn eine Menge kein Minimum hat und
    wir müssen nach dem Supremum greifen, wenn eine Menge kein Maximum hat.
    (Das betrifft offene und halboffene Intervalle.)

    8.4.3 Beweismethoden

    Ein Mathematiker braucht Phantasie, Bleistift und Papier sowie Ideen und Methoden, um andere Ideen zu beweisen oder zu widerlegen, welche seiner Phantasie absprangen oder von anderen behauptet werden.
    Direkter Beweis:
    A ⇒ B: (A ist hinreichend für B).
    Ausgehend von der wahren Aussage A zeigen wir durch (algebraisches) Umformen und durch Folgern, dass Aussage B aus Aussage A folgt.
    Indirekter Beweis (Widerspruchsbeweis oder die Reductio ad absurdum):
    Bei dieser Beweisart wird eine Aussage widerlegt, indem gezeigt wird, dass sich aus ihr ein logischer Widerspruch oder ein Widerspruch zu einer bereits anerkannten These herleiten läßt. Will man z. B. die Aussage A beweisen, zeigt man, dass sich aus der Annahme ¬A durch logisches Folgern ein absurdes Resultat ergibt.

    Beispiel: in A4 heißt es, ∃ 1 ∈ R | ∀ a ∈ R, a ⋅ 1 = a. Wir wollen
    beweisen, dass es nur eine Zahl mit dieser Eigenschaft gibt und treffen deshalb die Annahme, dass sei falsch:
    Es gibt eine weitere Zahl, sagen wir x, mit der gleichen Eigenschaft. Also x = x ⋅ 1 = 1 ⋅ x = 1. Wir erhalten also x = 1. ↯ Absurd!
    Das ist im Widerspruch zu unserer Annahme, die sich somit als falsch erweist!   ♫

    Ein spezieller indirekter Beweis ist der Beweis durch
    Kontraposition:
    Anstatt A ⇒ B zeigen wir ¬B ⇒ ¬A. (B ist notwendig für A).
    Induktion:
    (i) Die Aussage A(k) ist wahr;
    (ii) wenn A(n) wahr ist, dann ist A(n+1) wahr.
    Wir schließen, dass A(n) für alle ganzen Zahlen n ≥ k wahr ist.
    Gegenbeispiel:
    Finde ein Beispiel das die Vermutung widerlegt.

    Zum Beweis der Äquivalenz von A9a und A9b, brauchen wir noch eine leicht handhabbare Definition für das Supremum.

    8.4.4 SATZ

    Sei X ⊂ R. Dann gilt sup X = γ ϵ R
        (i) x ≤ γ für alle x ϵ X,
        (ii) für jede reelle Zahl ε > 0 existiert ein x ϵ X, so dass
    γ − ε < x.

    Beweis: Sei A ≔ (γ = sup X) und B ≔ (i) ∧ (ii).

    A ⇒  B(i): Wenn γ = sup X gilt, dann ist γ gemäß Definition 8.4.2 eine obere Schranke von X und deshalb gilt (i).
    A ⇒ B(ii): Angenommen ¬B(ii) ist wahr, es existiere also ein ε' > 0 so dass für jedes x ϵ X, x ≤ γ − ε' gilt. Daraus würde also folgen, dass γ − ε' eine kleinere obere Schranke als das Supremum γ ist, also ¬(γ = sup X), also ¬A. ↯

     B(i) ⇒ A: ∀ x ∈ X, x ≤ γ ⇒ γ ist eine obere Schranke von X gemäß Definition 8.4.2.
     B(ii) ⇒ A: wir gehen von ¬A aus und führen einen Widerspruch herbei, indem wir B(ii) als wahr erachten: Angenommen γ', (γ' < γ), ist die kleinste obere Schranke. Wir wählen ε = γ – γ' > 0. Dann, gemäß B(ii), ∃ x ∈ X | γ – ε = γ - (γ – γ') = γ' < x. Das würde bedeuten, dass γ', im Gegensatz zu unserer Annahme, keine obere Schranke für X darstellt. ↯ ❑


    8.4.5 SATZ

    Die Eigenschaften A9b und A9a sind äquivalent.
    Zur Erinnerung:
    A9b. Für jede offene Überdeckung Ω eines abgeschlossenen Intervalls [a, b] gibt es eine endliche Teilmenge Ω' ⊂ Ω die bereits [a, b] überdeckt.
    A9a. Jede nichtleere nach oben beschränkte Menge reeller Zahlen besitzt ein Supremum. (Der Beweis für das Infimum funktioniert in gleicher Weise.)

    Beweis: A9b ⇒ A9a
    Es ist vielleicht nicht gleich ersichtlich, worum es hier eigentlich geht. Es schadet nicht, hierüber noch ein paar Worte zu verlieren. Eine nichtleere Menge X enhält mindestens ein Element, also eine Zahl. Liegt dieser Fall vor, dann ist x sowohl Maximum als auch Supremum (gleichermaßen Minimum und Infimum) von X. Im Fall einer diskreten Menge existiert auch ein Maximum, ebenso für einen Intervall der oben abgeschlossen ist. In all diesen Fällen existiert eine kleinste obere Schranke. Was wir also zu zeigen haben ist, was passiert, wenn ich eine Menge X aus der Menge R markiere, ohne ein größtes Element für X zu spezifizieren, wie bei einem Intervall der oben offen ist. Was passiert an der Grenze der beiden Gebiete? Gibt es eine kleinste obere Schranke für X? Wie kann das fragwürdig erscheinende Merkmal A9b eingesetzt werden, um zu beweisen, dass X ein Supremum besitzt?
    Wir gehen von ¬A9a aus, dass also X kein Supremum besitzt und führen diese Annahme ad absurdum. Da die Menge X nach oben beschränkt ist, besitzt sie eine obere Schranke b. Sodann wählen wir ein beliebiges a ∈ X. Dann gilt a < b. Wir fassen den abgeschlossenen Intervall [a, b] ins Auge (A9b erfordert einen abgeschlossenen Intervall) und schneiden ihn in zwei Teile P und Q, wobei P die Elemente enhält, die zu X gehören und Q diejenigen elemente, die obere Schranken von X darstellen:
    P = {y | y ∈ [a, b] und y ist keine obere Schranke von X}
    Q = {y | y ∈ [a, b] und y ist eine obere Schranke von X}.
    Wir haben P ∪ Q = [a, b] und P ∩ Q = ∅. Wir konstruieren eine offenen Überdeckung für [a, b] indem wir für jedes y aus [a, b] einen offenen Intervall erstellen. Wir wählen als extreme Randpunkte ein beliebiges a0 < a und ein beliebiges b0 > b.
    X [ ] P Q ( ) ( ) a0 a b b0 y y
    Fig. 8.3   Schema für den Beweis A9b ⇒ A9a
    (i) Für jedes y aus P, wählen wir den Intervall I(y) = (a0, p(y)), wobei p(y) ∈ X und p(y) > y. Eine solche Wahl ist stets möglich, da y keine obere Schranke für X ist. Wir halten fest, dass y ∈ (a0, p(y)) and dass (a0, p(y)) ∩ Q = ∅, da p(y) ∈ X.
    (ii) Für jedes y aus Q, wählen wir den Intervall J(y) = (q(y), b0), mit q(y) ∈ Q und q(y) < y. Eine solche Wahl ist stets möglich, da y eine obere Schranke von X ist und gemäß unserer Annahme, dass X keine kleinste obere Schranke besitzt. Es gilt also, y ∈ (q(y), b0) und (q(y), b0) ∩ P = ∅, da q(y) ∈ Q.
    Die Menge der offenen Intervalle I(y) und J(y) bildet eine Überdeckung von [a, b]. Gemäß A9b existiert eine endliche Teilmenge von Intervallen, zum Beispiel

    {I(y1), I(y2), … , I(ym), J(ym+1), … , J(yn)}, die [a, b] bereits überdeckt.
    Da für jedes J(yr) gilt, dass J(yr) ∩ P = ∅ , bilden die Intervalle I(y1), I(y2), … , I(ym) eine Überdeckung von P. Sei p(yk) das größte der endliche vielen p(y1), p(y2), … , p(ym). Da p(yk) ∈ P, folgt p(yk) ∈ I(yh) für ein gewisses h. Das heißt aber, dass p(yk) < p(yh), entgegen der Tatsache, dass p(yk) die größte der Zahlen p(y1), p(y2), … , p(ym) ist. ↯ Absurd! ☺ Aus diesem Widerspruch folgt, dass A9a doch richtig ist, dass also doch jede nichtleere nach oben beschränkte Menge reeller Zahlen X ein Supremum besitzt. 😀

    Bemerkung: Das Supremum von X ist das Minimum von Q, nennen wir diese Zahl c ∈ Q. Deshalb war es falsch, im Beweis für c einen Intervall (q(c), b0) zu bilden, denn es gibt kein p(c) < c in Q. Der springende Punkt ist aber, dass man für jedes element x ∈ X ein element y ∈ X findet, so dass x < y.   ♬

    Beweis: A9a ⇒ A9b
    Angenommen, [a, b] wird überdeckt von Ω, einer unendlichen Menge offener Intervalle. Eine Teilmenge Ω' ⊂ Ω wollen wir für diese Beweisführung "zulässig" nennen, wenn sie den folgenden zwei Anforderungen genügt.
    (a) Ω' besteht aus endlich vielen offenen Intervallen I1 = (a1, b1), I2 = (a2, b2), … , In = (an, bn)
    (b) ⋃j=1n Ij hat keine "Lücken", d. h. x ∈ ⋃j=1n Ij und a ≤ y ≤ x impliziert y ∈ ⋃j=1n Ij.
    Es gibt zulässige Teilmengen von Ω; beispielsweise ist jeder Intervall I ∈ Ω für den a ∈ I gilt, zulässig. Wenn nun ein Ω' = {I1, I2, … , In} mit Ii = (ai, bi) zulässig ist, setzen wir c(Ω') := max {bi}. Wenn für ein zulässiges Ω' gilt, b < c(Ω'), dann ist Ω' offensichtlich eine endliche Überdeckung von [a, b].
    Wir nehmen an, dass A9b falsch ist und unterstellen, dass c(Ω') ≤ b für alle zulässigen Ω' und zeigen dann, dass diese Annahme zu einem Widerspruch führt.
    Wenn c(Ω') ≤ b für alle zulässigen Ω', dann auch r := sup {c(Ω')} ≤ b. Gemäß unserer Annahme A9a existiert dieses Supremum. Da r ∈ [a, b], existiert ein Intervall ω ∈ Ω, sodass r ∈ ω. Wir wählen nun ein zulässiges Ω'' sodass c(Ω'') ∈ ω. Das ist stets möglich wegen Satz 8.4.4 (ii). Aber die Menge Ω''', die aus den Intervallen von Ω'' und dem Intervall ω besteht, ist auch zulässig und deshalb gilt c(Ω''') > r, da r ∈ ω. Das ist im Widerspruch zu der Annahme, dass c(Ω') ≤ r für jedes zulässige Ω'.  ↯
    Das vervollständigt den Beweis für A9b ⇔ A9a.  ☐  ♫

    8.4.6 BEISPIEL

    Der Satz von Borel-Lebesgue gilt nicht für die Menge Q der rationalen Zahlen. Um das einzusehen, konstruieren wir eine unendliche offene Überdeckung rationaler Zahlen für den abgeschlossenen Intervall [1, 2] rationaler Zahlen. Keine endliche Teilmenge der unendlichen Überdeckung überdeckt [1, 2].
    Für jede natürliche Zahl n bilden wir den offenen Intervall In = (0, an). Hier ist an die größte n-stellige Dezimalzahl mit an2 < 2.
    Für jede natürliche Zahl n bilden wir den offenen Intervall Jn = (bn, 3). Hier ist bn die kleinste n-stellige Dezimalzahl mit bn2 > 2.
    Wir beweisen nun, dass die zwei Mengen von Intervallen
    {In} = {(0, 1), (0, 1.4), (0, 1.41), (0, 1.414), …} und
    {Jn} = {(2, 3), (1.5, 3), (1.42, 3), (1.415, 3), …} zusammen [1, 2] überdecken.
    Wir bemerken, dass a1 ≤ a2 ≤ a3 ≤ a4 ≤ … und dass b1 ≥ b2 ≥ b3 ≥ b4 ≥ …
    Angenommen, α ∈ [1, 2] wird nicht überdeckt, also an < α < bn, für alle n und daher
    an2 < α2 < bn2     …    (1)
    und
    α2 - 2 < bn2 – 2.     …    (2)
    Da auch 2 - an2 > 0 für alle n gilt, folgt aus (2) dass
    α2 - 2 < (bn2 – 2) + (2 – an2) = bn2 – an2     …    (3)
    Nun ist bn2 – an2 = (bn + an)(bn – an) ≤ 3 · 10-n+1 und es folgt aus (3) dass α2 - 2 < 3 · 10-n+1 für alle n.
    Das ist nur möglich, wenn α2 - 2 ≤ 0 or
    α2 ≤ 2     …    (4)
    Weiterhin folgt aus (1) dass 2 - α2 < 2 – an2.     …    (5)
    Da bn2 – 2 > 0, folgt aus (5) dass
    2 - α2 < (2 – an2) + (bn2 – 2) = bn2 – an2.
    Wir haben daher 2 - α2 ≤ 0 und somit
    α2 ≥ 2.     …    (6)
    Aus (4) und (6) folgt
    α2 = 2.
    Das ist im Widerspruch zu der Tatsache, dass es keine rationale Zahl α gibt, die diese Gleichung erfüllt. Die Menge von Intervallen {In} und {Jn} formen, entgegen der Annahme, eine Überdeckung für [1, 2].  ☐  ♫

    Aber keine endliche Teilmenge dieser Intervalle bildet eine Überdeckung für [1, 2]. Wählt man die endliche Teilmenge
    {Ir1, Ir2, … ,Irn, Js1, Js2, … ,Jsm} wobei
    r1 < r2 < … < rn < und s1 < s2 < … < sm, dann ist keine der rationalen Zahlen {x | arn ≤ x ≤ bsm} von diesen Intervallen überdeckt.  ☐  ♫

    BEMERKUNG
    Beim Satz von Borel-Lebesgue ist darauf zu achten, dass die Intervalle, welche die Überdeckung bilden, offen sind, und der Intervall der überdeckt wird, abgeschlossen ist. Beispielsweise bildet die folgende unendliche Menge von offenen Intervallen
    (0, 1/2), (0,2/3), (0, 3/4), ... , (0, (n-1)/n), ... ,
    eine Überdeckung des offenen Intervalls (0, 1).
    Hingegen gibt es keine endliche Teilmenge dieser unendlichen Menge, die (0, 1) überdeckt.

    Gleicherweise gibt es abgeschlossene Überdeckungen von abgeschlossenen Intervallen, von denen keine endliche Teilmenge eine Überdeckung bildet. So wird der abgeschlossene Intervall [-1, 1] durch die folgende Mengenfamilie abgeschlossener Intervalle überdeckt: [-1, 0], [1/2, 1], [1/3, 1], ... , [1/n, 1], ... Keine endliche Teilfamilie dieser Überdeckung bildet eine Überdeckung für [-1, 1].

    Satz des Archimedes

    Heureka! entfuhr es Archimedes, als es ihm dämmerte: die durch den Auftrieb bewirkte Gewichtsverminderung ist gleich der Gewichtskraft der verdrängten Flüssigkeits- oder Gasmenge.
    Noch ein anderes, weniger bekanntes Prinzip, hat man ebenfalls nach Archimedes benannt. Beginnen wir mit der folgenden

    Aussage

    Wenn a, b ∈ R und a > 0, dann gibt es ein n ∈ N, so dass n · a > b.
    Durch Division beider Seiten mit a, wollen wir zeigen, dass es ein n ∈ N gibt, so dass n > b/a. Aber b/a ist nur irgendeine reelle Zahl, sagen wir x. Also, Wenn a, b ∈ R und a > 0, dann gibt es ein n ∈ N, so dass n > x. Die letztere Form nennt man

    Das Archimedische Prinzip

    Jede reelle Zahl wird von einer natürlichen Zahl übertroffen. Oder gleichbedeutend, die Menge der natürlichen Zahlen N ist nicht nach oben beschränkt.
    Beweis. Angenommen N wäre nach oben beschränkt. Das hieße, es existiert ein γ := sup N, und damit würde ein n ∈ N existieren, so dass γ - 1 < n, d. h. γ < n + 1, was der Bedeutung des Supremums widerspräche.  ↯ ☐
    Eine andere Formulierung dieses Prinzips liefert uns den folgenden

    8.4.7 SATZ (Eudoxos)

    Für jedes positive ε existiert eine natürliche Zahl n, so dass 1/n < ε.

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